Von Dr. Erich K. Ritter
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Der Bullenhai (Carcharhinus leucas) gehört
zu den potentiell gefährlichen Haien.
Diese sehr massive Haiart kann bis zu 350 cm lang und 230 schwer werden.
© Shark Info /
Doug Perrine
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Schon in der Fragestellung versteckt sich das erste Problem. Haie
als solche sind nicht gefährlich. Es sind lediglich die Umstände, die zu
Situationen führen können, die für Menschen gefährlich sind.
Viele Leute werden nun sagen, dies sei Haarspalterei. Doch es ist ein grosser
Unterschied, ob ein Tier als gefährlich betrachtet werden muss, oder ob es nur
gewisse Situationen sind, die gefährlich sein können. Es gibt viele
Situationen, in denen auch bei Anwesenheit eines grossen Hais keine Gefahr besteht.
Den gefährlichen Hai gibt es ebenso wenig wie auch kein aggressiver Hai
existiert. Natürlich gibt es Haiarten, denen man sich - rein von der
Grösse her - mit Vorsicht nähern sollte. Die Körpergrösse ist
ein Problem im Umgang mit Haien. Doch obwohl die meisten Haie, die im Fernsehen
oder in Aquarien gezeigt werden, meist von stattlicher Grösse sind, muss
hervorgehoben werden, dass von den über 460 Haiarten nur ein sehr geringer
Bruchteil so gross wird, dass sie einen Menschen ernsthaft verletzen können.
Die Mehrzahl der Haiarten ist dafür zu klein. Die Grösse allein spielt
jedoch nur eine mittelbare Rolle. Wichtig ist vielmehr die Tatsache, dass viele
grosse Haiarten Beutetiere haben, die in ihrer Grösse mit einem Menschen
vergleichbar sind. Um nun in der Lage zu sein, solche Beutetiere zu attackieren,
braucht es notwendigerweise die entsprechenden «Werkzeuge». Dass die Gebisse beim
Kontakt mit Menschen schwere Wunden zur Folge haben können, ist
nachvollziehbar. Doch sind diese Gebisse unabhängig vom Menschen entwickelt
worden, um im Gefüge der Natur zu bestehen. Doch wir Menschen sehen die Natur
und ihre Bewohner oft aus einem sehr engstirnigen, anthropozentrischen Blickwinkel,
sodass der wahre Sachverhalt völlig überschattet wird. Die eigentliche
Gefahr liegt nämlich nicht in der Präsenz der Haie, sondern darin, dass
wir Menschen, wenn wir uns im Meer befinden, von unserer Grösse her durchaus
ins Beutespektrum grosser Haie passen. Dies und die fehlende Fähigkeit der
Haie zur abschliessenden Analyse dessen, was auftaucht und durch seine Schwingungen
ein Beutetier vorgaukelt (siehe auch in Shark Info
2 / 98 «Haiangriffe - ein andauernd faszinierendes Rätsel»),
sind die wesentlichsten Faktoren für
die mögliche Gefährlichkeit von Haien. Die eigentliche, respektive
unmittelbare Gefährlichkeit wird dann durch die Höhe der Hemmschwelle des
Hais gesteuert, sich etwas Unbekannten zu nähern. Die Gefahr liegt also nicht
per se im Tier als solchem, sondern darin, dass wir in den Grössenbereich der
Beutetiere passen, uns im Bereich der Haie aufhalten und vom Hai nicht analysiert
respektive als «Nicht-Beute» ausgeschieden werden können.
An dieser Stelle kommt jeweils, folgt man den gängigen
Gefährlichkeitslisten von Haien (z. B. International Shark Attack File ISAF,
eine Institution, die Haiangriffe analysiert und sammelt), an erster Stelle der
Weisse Hai (Carcharodon carcharias), gefolgt vom Tigerhai (Galeocerdo
cuvier) und dem Bullenhai (Carcharhinus leucas). Die Rangliste wird
aufgrund meist fragwürdiger Statistiken von Haiunfällen zusammengestellt.
Dem Leser der Statistiken soll weisgemacht werden, dass rund 78% aller Angriffe
nicht vom Menschen provoziert worden seien, und im Falle des Weissen Hais sollen es
sogar 98.7% aller Fälle sein, wo das Tier «unprovoziert» attackierte. Soll
das wirklich bedeuten, dass der Hai nahezu immer «einfach so» zubiss, ohne vorher
provoziert worden zu sein? Genau das wollen uns die Statistiken wie diejenige des
ISAF einreden. Doch es ist eine Tatsache, dass bei genauer Analyse gezeigt werden
kann, dass sich das spätere Opfer in eine Situation begab oder sich bereits
darin aufhielt, die eine Reaktion des Hais nach sich zog - für Haie eine
Herausforderung, eine Provokation. Die Angriffs-Statistiken müssen daher von
diesen nutzlosen und nicht diskutierten Zahlen wegkommen. Nicht vorbelastete
Leserinnen und Leser, die zufällig z. B. im Internet auf solche Tabellen
stossen, bekommen sonst ein völlig falsches Bild über die
tatsächliche Gefährlichkeit der Haie. Nicht nur, weil die Zahlen zu
Ungunsten der Haie verdreht werden, sondern auch darum, weil versäumt wurde zu
erklären, was wirklich passiert ist. Und nicht jeder kennt sich bei den
Haiarten genügend gut aus, um zu realisieren, dass in diesen Tabellen auch
Arten genannt werden, die gerade einmal eine Maximallänge von 50 cm aufweisen
(z. B. der Zigarrenhai Isistius brasiliensis) und die Menschen wohl nicht
ernstlich bedrohen. Trotzdem: Laut ISAF fallen auch diese Zwerge unter diejenigen
Haiarten, die angeblich unprovoziert attackieren!
Zwar hat es durchaus seine Berechtigung, Unfälle in einem
Zusammenhang mit der Gefährlichkeit zu nennen, doch viele der
aufgeführten Unfälle müssen mit einem grossen Fragezeichen versehen
werden. Nimmt man solche Statistiken trotzdem als Massstab für die potentielle
Gefährlichkeit von Haien, stellt man fest, dass nur etwa 25 von über 460
existierenden Haiarten nachweislich mehr als einmal in einen Unfall verwickelt
waren. Daneben gibt es weitere 10 bis 15 Arten, die nur einmal in einen Unfall
verwickelt waren. Dementsprechend können die potentiell gefährlichen
Situationen auf rund 9% aller Haiarten reduziert werden. Dieser geringe
Prozentsatz lässt jedoch keinen Schluss auf die Häufigkeit zu.
Grössere Tiere, respektive Arten, kommen aufgrund ihres Energieverbrauchs
wesentlich seltener vor als ihre kleineren Verwandten. Deshalb ist deutlich
festzuhalten, dass die wenigen Haiarten, die in bestimmten Situationen
tatsächlich Schaden anrichten können und somit als potentiell
«gefährlich" gelten, schon aufgrund ihrer Seltenheit die omnipräsente
Gefährlichkeitshysterie keinesfalls rechtfertigen.
Nachfolgend werden die drei wichtigsten Arten bezüglich
Unfallstatistik kurz erläutert und es wird beschrieben, was diese Tiere so
aussergewöhnlich macht. Obwohl auch allen anderen Arten Platz eingeräumt
werden müsste, werden hier drei Arten stellvertretend aufgeführt. Zu den
Unfällen: Der «unprovozierte» Angriff ist nur eine Etikette, die diesen Tieren
angehängt wird. Eine bessere Analyse würde jedoch zeigen, dass es meist
der Mensch ist, der Fehler begangen hat.
Die «Gefährlichkeit" dieser Art liegt zweifellos in ihrer
Grösse und in ihrer Neugier, mit der sie sich der vermeintlichen Beute
nähert. Weisse Haie, wie auch andere Arten, besitzen keine Möglichkeit,
ein unbekanntes Beuteobjekt abschliessend zu analysieren. Entsprechend selten wird
mit dem Maul getestet und das Objekt mit den Geschmacksknospen untersucht. Die
Neugier dieser Tiere darf aber nicht mit einem eigentlichen Zubeissen gleichgesetzt
werden. Die in über 98% der Unfälle angegebenen «unprovozierten Angiffe»
sind daher nicht nur falsch, sondern beschreiben auch eine falsche Biologie. Oft
hört man, dass der Weisse Hai Surfer mit Seehunden verwechselte und deshalb
zubiss. Eine sehr passende Theorie, wenn man Haie als dumme Kreaturen betrachtet.
Doch diese und andere Theorien waren nur deshalb akzeptiert, weil sie niemand
anzweifelte und widerlegte (siehe auch in Shark Info
2 / 98 «Haiangriffe -
ein andauernd faszinierendes Rätsel»). Neuere Untersuchung zeigen jedoch, dass
viele angebliche Tatsachen nichts weiter sind, als erste Ideen von
Wissenschaftern. Da aber Wissenschafter früherer Generationen ihre Theorien
weder untermauern konnten noch wollten, und die heutigen Forschungsgelder eher in
anderen Gebieten eingesetzt werden, bleiben diese Theorien nach wie vor Massstab
aller Dinge. Eine neue Generation von Wissenschaftern ist jedoch nun daran, die
alten Theorien detailliert zu untersuchen und zu verifizieren. Dass Weisse Haie
irrtümlich Surfer mit Seehunden verwechselten, oder dass sie zubissen und sich
zurückzogen, um sich etwa vor den Krallen oder einem Biss des Opfers zu
schützen, wird man bald nur noch als Anekdoten zitierten. Die eigentliche
Gefährlichkeit der Tiere liegt schliesslich eher darin, dass ihr Verhalten
nach wie vor mit zu vielen Fragezeichen behaftet ist. Obwohl beim Schwimmen oder
Tauchen mit Weissen Haien selbstverständlich die grösste Vorsicht
angezeigt ist, darf schon jetzt gesagt werden, dass sie mit derjenigen Art, die
jahrelang - als Bestie verschrien - die Kinosäle füllte, nicht im
geringsten verwandt sind.
Die Tigerhaie gehören zweifellos zu den am wenigsten
beschriebenen und mit den meisten Fragezeichen behafteten Grosshaiarten. Obwohl sie
wesentlich häufiger vorkommen als die ebenso grossen Weissen Haie, befanden
sie sich nie im Fokus der Verhaltensforschung. Tigerhaie verfügen über
die wohl perfekteste Zahnstruktur aller Haie. Diese ermöglicht ihnen, zusammen
mit ihrer Grösse, nahezu jede Beutetiergruppe erfolgreich zu erlegen. Entgegen
den alten Theorien, in denen Allesfresser als primitiv angeschaut wurden, geht man
heute davon aus, dass diese Form der Ernährung eine hohe Spezialisierung
darstellt. Denn dadurch sind diese Tiere bei Nahrungsknappheit in der Lage, von
einer Beute auf eine andere zu wechseln. Tigerhaie leben in warmen Gewässern,
daher kommen sie mit den Menschen auch vermehrt in Kontakt. Auch ihr breites
Beutespektrum macht eine mögliche Konfrontation wahrscheinlicher, nicht
zuletzt darum, weil wir Menschen unbewusst auch als Konkurrenten auftauchen. Sowohl
Tigerhaie als auch Weisse Haie sind neugierige Tiere. Diese Tatsache darf jedoch
nicht als Aggressivität missverstanden werden, denn sie widerspiegelt
lediglich die Natur dieser Tiere.
Viele Menschen glauben, dass dies die wohl gefährlichste Art
darstellt: Schnell, kraftvoll und mit einem Gebiss ausgerüstet, das keinen
Vergleich mit dem Tigerhai oder dem Weissen Hai zu scheuen braucht. Doch das wahre
Problem dieser Haiart liegt wohl eher darin, dass sich die Tiere in Ufernähe
aufhalten und nicht selten auch in Flussmündungen zu finden sind. Flüsse
bringen Süsswasser und viel Nahrung ein, die oft abstirbt, wenn sie mit
Salzwasser in Kontakt kommt. Die breite Palette von Nahrungsmitteln lockt eine
Fülle von Organismen an - nicht zuletzt auch Haie. Brackwasser ertragen aber
nur wenige Haiarten, und es bedarf physiologischer Anpassungen, die für den
Haikörper Stress bedeuten können. Das Gemisch aus Süss- und
Salzwasser ist meistens mit einer hohen Konzentration organischer und anorganischer
Stoffe angereichert, was eine geringe Sichtweite zur Folge hat. Die in diesen
Regionen schwimmenden Bullenhaie haben sich dabei nicht nur mit ihren
physiologischen Anpassungen auseinanderzusetzen, sondern auch mit einer
Überdosis elektrischer Felder, die durch all diese Stoffe verursacht werden.
Die schlechte Sicht kann dann dazu führen, dass eine Konfrontation mit
Menschen zu einem Unfall führt, da die Beiss-Hemmschwelle durch die
ausserordentlichen Umweltverhältnisse stark reduziert wird.
Jede Haiart, die irgendwann in einen Unfall verwickelt wurde,
müsste in ihrer Biologie detailliert beschrieben werden. Es ist schon so:
Irgendwo und irgendwann hat ein einziges Tier einer Haiart zugebissen - mit
grösster Sicherheit deshalb, weil es provoziert worden war - und mehrere
Generationen später wird noch immer die gesamte Art aufgrund dieses einzigen
Vorfalls als gefährlich bezeichnet. Und dies unabhängig davon, ob
dieses einzelne Tier tatsächlich schuldig war oder nicht. Den
Haiunfällen und in ihrer Folge der Anprangerung des Hais wird in den
menschlichen Köpfen keine Verjährung zugestanden! Bleibt nur zu hoffen,
dass spätere Generationen realisieren und begreifen werden, wie die scheinbare
Gefährlichkeit der Haie wirklich einzustufen ist.
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* Dr. Erich K. Ritter ist Haibiologe
und Adjunct Assistenz Professor an der Hofstra Universität, New York.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. Erich K. Ritter
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