Von Dr. Erich K. Ritter
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Ein Weisser Hai (Carcharodon carcharias) schnappt zu. Warum
auch Menschen gebissen werden können, ist noch lange nicht geklärt.
© Hai-Stiftung
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Niemand kann abstreiten, dass es Haiunfälle gibt. Ist
ein Unfall passiert, so rasen die Berichte darüber wie Lauffeuer durch die
Weltpresse. Allein diese Aufmerksamkeit der Presse zeigt schon, dass es sich um
aussergewöhnliche Ereignisse handelt. Wären sie alltäglich wie Autounfälle,
würden sie, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Trotz des Rummels um die
wenigen Haiunfälle hat sich die öffentliche Meinung in den letzten Jahren
bezüglich der Gefährlichkeit von Haien deutlich geändert. Immer mehr kommt man
zur Einsicht, dass die Gefahr, von einem Hai gebissen zu werden, gering und
völlig überbewertet ist. Hinsichtlich anderer Gefahrenquellen des täglichen
Lebens fällt sie nicht ins Gewicht. Ein Vergleich mit ganz alltäglichen Unfällen
macht dies deutlich. So werden beispielsweise alleine in der USA und Kanada
jährlich rund 40 Menschen von Schweinen getötet, viermal (!) mehr als weltweit
von Haien. In Florida wird pro Jahr dieselbe Anzahl von Menschen vom Blitz
erschlagen.
Und doch gibt es Unfälle mit
Haien. Sind Haiunfälle einfach die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind sie
das Resultat unglücklicher Umstände oder gibt es andere Gründe? Um eine Antwort
zu finden, muss man einerseits den Unfallhergang rekonstruieren und andererseits
nach der Motivation des Haies suchen. Ein ganz falscher Ansatz wird immer wieder
von Mitarbeitern des ISAF (International Shark Attack File) in Gainesville
benutzt, die zwischen «provoziert» und «unprovoziert» unterscheiden. Dies sind
zwar einleuchtende Begriffe, sie wurden jedoch leider nie genauer definiert. So
wird ein Unfall von Sachbearbeitern des ISAF meistens nach Gutdünken als
«provoziert» oder «unprovoziert» taxiert, je nachdem, ob der Mensch scheinbar den
Unfall verursachte oder nicht. Eine derartig subjektive Beschreibung stellt die
effektive Aussagekraft der Berichte stark in Frage. Möchte man dem ISAF Glauben
schenken, sind unprovozierte Attacken meist sogenannte «hit and run»-Unfälle,
nach dem Schema: der Hai beisst zu und schwimmt weg. Als Ursachen dieser Unfälle
werden im ISAF meistens leuchtende Objekte wie Schmuckstücke oder blitzende
Chromteile am Opfer und/oder aufgeregte Bewegungen im Wasser genannt. Der Hai
wurde durch diese Reize angelockt, biss zu, liess aber, als er den Fehler
bemerkte, vom Opfer ab und schwamm davon. Nun, eine solche Definition widerlegt
sich selbst, denn gerade das Blitzen von Schmuck oder Chrom wirkt, ebenso wie
geräuschvolles Planschen, provozierend auf einen Hai. Das ist den meisten
Tauchern und Schwimmern jedoch oft nicht bewusst und man sollte deshalb eher von
provozierenden oder auslösenden Faktoren sprechen. Das ISAF registrierte bis Ende
1998 weltweit 231 scheinbar unprovozierte Bisse von Weissen Haien (Carcharodon
carcharias) gegenüber vier provozierten Bissen. Eine Zahl, die angesichts der
schwammigen Auswertungsmethode in Frage gestellt werden muss. Gleiches gilt auch
für die beiden anderen notorisch gefürchteten Haiarten, den Tigerhai (Galeocerdo
cuvier) und den Bullenhai (Carcharhinus leucas). Möchte man den ISAF-Statistiken
Glauben schenken, sind es nur gerade 3.7% aller Unfälle, die durch Menschen
provoziert sein sollen. Meiner Ansicht nach ist es jedoch generell falsch,
zwischen Provokation und Nicht-Provokation unterscheiden zu wollen, denn dies
lässt sich wissenschaftlich nicht untermauern, sondern widerspiegelt lediglich
das persönliche Empfinden des Beurteilenden. Ein Hai beisst nie grundlos zu,
entsprechend muss auf irgend einer Ebene eine Provokation beziehungsweise ein
Auslöser vorhanden sein.
Der wissenschaftlich korrekte Ansatz bei der Untersuchung von Haiunfällen ist nicht
die Frage nach «provoziert» oder «unprovoziert», sondern die Analyse der Ursache
und des Ziels eines Angriffes. Die wohl wichtigste Frage einer Untersuchung ist
folgende: beisst der Hai gezielt den Menschen, oder wird der Mensch nur
«nebenbei» gebissen. Die beiden letzten «Hai-Attacken» in den Bahamas, die ich
für die GSAF (Global Shark Attack File, Princeton) analysierte, erwiesen sich als
solche «Nebenbei-Bisse». Nicht die Menschen waren Ziel des Angriffs, sondern
harpunierte Fische. In beiden Fällen versuchten die Haie an die aufgespiessten,
noch zappelnden Fische heranzukommen. In dem Durcheinander von Tauchern, die die
Fische ins Boot bringen und sich gleichzeitig die Haie vom Leib halten wollten,
kam es dann zum Unfall. Während den Interviews sagten beide Opfer aus, dass die
Haie sich ausschliesslich für die Fische interessierten. Entsprechend dürfen
solche Ereignisse gar nicht als Attacken bezeichnet werden, sondern als Unfälle.
Bedeutet dies, dass, wenn wir Haie nicht provozieren, es nicht zu Haiunfällen
kommen würde? In den meisten Fällen trifft dies zu, doch es gibt Unfälle, für die
die Wissenschaft noch keine Erklärung liefern kann. Wir können momentan noch
nicht abschliessend sagen, welche Faktoren auf einen Hai provozierend wirken.
Sind es gewisse Töne, die die Haie anlocken und sie zum Beissen verleiten, sind
es spezifische Geruchsmoleküle (sehen sie hierzu auch
Shark Info 3/99), gewisse
Wasserbewegungen, Strömungen oder atmosphärische Vorgänge? Natürlich ist bekannt,
dass Faktoren, wie zappelnde Fische eine entsprechende Reaktion bei einem Hai
auslösen, doch ist es nach wie vor nicht bekannt, was den Hai letztendlich
bewegt, nicht den Fisch, sondern einen Menschen - eine für ihn unbekannte
Lebensform - zu beissen. Generell haben Raubtiere eine sehr grosse Hemmschwelle,
sich unbekannten Dingen zu nähern. Dies ist ein weiterer Aspekt, der die Fragen
um Haiunfälle immer komplexer macht, denn es ist kein Zufall, wenn das Tier
schlussendlich zubeisst.
Haie greifen nicht
einfach blindlings an, die äusseren Umstände müssen ebenfalls passen. Ein Teil
unserer Arbeit befasst sich mit diesem Aspekt. Wir untersuchen Bullenhaie
(Carcharhinus leucas) und Zitronenhaie (Negaprion brevirostris), wie sie sich dem
Futter annähern, wenn sich ein unbekanntes Objekt wie zum Beispiel der Mensch in
unmittelbarer Nähe, aber nicht in Kontakt mit dem Futter befindet. Wir versuchen
so das häufigste Unfallszenario zu simulieren. Ein überraschendes Resultat dieser
Versuche war, dass sich diese beiden Grosshaiarten hinsichtlich ihrer Annäherung
an die Futterquelle stark unterscheiden und kein stereotypes Verhalten erkannt
werden konnte. Gerade Bullenhaie zeigen ein sehr interessantes Verhalten. Sie
tauchen fast nie alleine auf, wenn sie von etwas angelockt werden. Oft befindet
sich ein zweites Tier entweder in unmittelbarer Nähe, oder es hält sich in
einiger Entfernung auf, nur schemenhaft erkennbar. Wir sind uns noch nicht im
Klaren darüber, wie dieses Verhalten bei Bullenhaien zu interpretieren ist.
Handelt es sich um eine Rangordnung beim Fressen, eine Lehrer-Schüler-Beziehung
oder etwas ganz anderes? Bullenhaie sind soziale Fresser, denn sie fressen gerne
in Gruppen, und haben entsprechend eine andere Strategie bei der Futtersuche als
die Zitronenhaie. Die Frage, ob es aber nun Schutz, Hilfe, Vormachen oder einfach
nur Geselligkeit ist, kann noch nicht abschliessend beantwortet werden.
Bei Zitronenhaien konnten wir ein derartiges
Verhalten in all den Jahren nie
beobachten. Zwar tauchen oft mehrere Tiere nacheinander auf, aber nichts deutet
auf irgendeine Form von Koordination oder Kooperation hin.
Bereits diese Beobachtungen bei nur zwei
Arten machen deutlich, dass es DEN Haiangriff nicht
gibt. Verschiedene Arten haben verschiedene Strategien. Doch wie sieht es aus,
wenn das Futter sich nun direkt am Menschen befindet? Ein weiteres typisches
Szenario, ein getöteter oder sterbender Fisch, der oft auch noch blutet, hängt am
Gürtel des Schnorchlers oder Tauchers. Dieser Versuch warf bei uns bis heute mehr
Fragen auf, als Antworten gefunden werden konnten. Das Erstaunliche ist, dass es
jeweils sehr lange dauert, bis der Hai sich überwinden kann, an den Fisch zu
gehen. Woran liegt das? Wieso ist es eine der häufigsten Unfallursachen? Wenn ein
entsprechender Versuch durchgeführt wird, dauert es erstems sehr lange bis sich
der Hai heranwagt und zweitens kam es bisher nie zum Nebenbei-Biss. Die Antwort
scheint darin zu liegen, dass die Versuchsperson den Hai erwartet. Hier stellt
sich natürlich die Frage, was der Hai in einer solchen Situation wahrnimmt. Kann
der Hai erkennen, womit auch immer, dass dem unbekannten Objekt seine Anwesenheit
bewusst ist? Wenn wir dies herausfinden können, werden sich auch diese Form von
Unfällen stark reduzieren können.
Alle paar Jahre taucht in der Literatur wieder der
Satz auf, dass Haie Reviere haben und diese
verteidigen. Eine Idee, die aus den Anfängen des Tauchens stammt. Es ist bis
heute nicht bewiesen, dass Haie, wenn auch nur zeitlich beschränkt, Reviere haben
und eventuelle Angriffe auf territoriales Verhalten zurückzuführen sind. Dagegen
gibt es verschiedene bekannte Gründe, weshalb Haie zubeissen können. Sie gehen
von Hierarchie innerhalb einer Gruppe bis hin zur Paarung. Könnte es sein, dass
Menschen als mögliche Konkurrenten während der Paarung gesehen werden? Könnte es
sein, dass Menschen durch ihre Grösse als dominante Objekte im Riff interpretiert
werden und ein Hai versucht, seine Stellung in der Hierarchie zu verteidigen?
Zwar sind die Ursachen eines Bisses noch weit von einer Erklärung entfernt, doch
gerade diese letzten Möglichkeiten würden erklären, weshalb es auch zu einem
Angriff kommen kann, wenn sich kein Futter in unmittelbarer Nähe befindet.
Oftmals sehe ich Unfälle, bei denen der Hai zwar mehrere Male zubiss, jedoch kein
eigentlicher Gewebeverlust beim Opfer erkennbar ist, sich kein Futter in
unmittelbarer Nähe befand und entsprechend ein eigentlicher Fressreiz sehr in
Frage gestellt werden muss. Vielleicht müssen wir völlig umdenken und den Akt des
Näherns mit dem abschliessenden Biss aus einer ganz anderen Perspektive
betrachten.
In sehr seltenen Fällen werden in
Haimägen dennoch menschliche
Überreste gefunden. Hierzu
muss angemerkt werden, dass die meisten Haie, bei denen menschliche Reste
gefunden wurden, den Menschen wahrscheinlich gar nicht angegriffen und gefressen
haben, sondern das Opfer vorher verunglückte, ertrunken, oder anders ums Leben
gekommen war und der Hai sich dann als Aasfresser betätigte eine seiner
wichtigsten Aufgaben im marinen Oekosystem.
Es gibt Berichte, zum Beispiel aus dem
2. Weltkrieg, die beschrieben, wie Menschen ums
Leben kamen, weil sie durch Haie zu Tode gebissen wurden. Das berühmteste
Beispiel ist wohl die «USS Indianapolis», die am 30. Juli 1945 torpediert wurde,
innerhalb von 12 Minuten sank und rund 900 Besatzungsmitglieder treibend ihrem
Schicksal überlassen wurden. 316 davon wurden vier Tage später gerettet, die
andern sind ums Leben gekommen. Unabhängig, welche Geschichtsbücher oder Berichte
man liest, es sind immer wieder Haie, die die Matrosen getötet haben sollen. Es
gibt zwar Augenzeugen und Beweise, dass Haie anwesend waren und es kam
offensichtlich effektiv zu Kontakten und Bissen, doch kann mit der heutigen
Kenntnis über die Biologie und das Verhalten von Haien gesagt werden, dass für
die tragischen Verluste bei diesem Unglück nicht die Haie die Hauptursache
gewesen sein können.
* Dr. Erich K. Ritter ist Haibiologe
und Adjunct Assistenz Professor an der Hofstra Universität, New York.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. Erich K. Ritter
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