Von Ian K. Fergusson
Schon die blosse Andeutung eines Haiangriffs im Mittelmeer überrascht - ja
entsetzt - die vielen Millionen Menschen, die diese Region jedes Jahr besuchen. Aus biologischer und
historischer Sicht sollte die Tatsache, dass Haie in der Region nur mit einer fast zu
vernachlässigen Häufigkeit von 0.42 Fällen im Jahr überhaupt Menschen beissen, nun
wirklich niemanden überraschen. Die einzige Überraschung liegt wohl eher in der so
auffallend geringen Häufigkeit von Haiangriffen.
Das Vorkommen von etwa 46 Haiarten im Mittelmeer - 16 von ihnen mit 3 oder mehr Metern Länge und
15 potentiell gefährliche Arten - macht das gelegentliche Zusammentreffen zwischen dem Menschen
und diesen Tieren im am häufigsten besuchten und meistbereisten Meer fast unvermeidbar. Obwohl
das Mittelmeer kaum 0.7% der weltweiten Wasserfläche ausmacht, ist die hohe Anzahl der am und im
Mittelmeer Erholung und Einkommen suchenden Menschen enorm und steht in keinem Verhältnis zu
seiner relativen geographischen Fläche.
Auch die Geschichte gibt Hinweise auf die Gefährlichkeit der Haie im Mittelmeer. Wie so vieles,
das die Interaktion zwischen Mensch, Tier und Umwelt widerspiegelt, stammt die erste Erwähnung
des Phänomens Haiangriff nicht etwa von mit Palmen gesäumten tropischen Stränden,
sondern aus der Wiege der Zivilisation: dem Mittelmeer. Erstmals schon von den alten griechischen
Geschichtsschreibern viele Jahre vor Christi Geburt erwähnt, weckten Haiunfälle doch erst
vor kurzem grösseres Interesse der Medien und der zweckorientierten Wissenschaft.
Bedauerlicherweise wurden sie aber gleichzeitig mit einem grundlosen Tabu belegt oder aufgrund
falscher Informationen sowie oftmals mit purer Übertreibung beschrieben. Diese negativen Aspekte
sind nirgends offensichtlicher als in den Mittelmeerländern, wo der durch Tourismus verdiente
Lebensunterhalt jegliche rationale Haltung gegenüber Haiangriffen oder den Haien selbst
verhindert.
In diesem Artikel versuche ich das allgemein emotional behandelte Thema «Haiangriff» mit
Fakten und Beweisen zu beleuchten. Ich hoffe, dass das geringe Risiko eines Haiangriffs im
«Mittleren Meer» danach mit besserem Hintergrund und rationellerem Denken angegangen werden
kann.
Beginnen wir mit dem Wenigen, das über Mensch-Hai-Interaktionen in dieser stark besiedelten
Region der Erde publiziert wurde. Wie im klassischen halbwissenschaftlichen Buch «Shark and
Survival» von Schultz & Malin beschrieben, trug das ursprünglich unter der Aufsicht der
US Navy geführte «Shark Attack File» (SAF) für die Zeit zwischen 1862 und 1963
eher unvollständige Daten von Haiangriffen in der Mittelmeerregion zusammen. Obwohl Haiangriffe
im Mittelmeer erstmals bereits in der Antike beschrieben wurden, gibt es kaum Veröffentlichungen
über Mensch-Hai-Interaktionen im Mittelmeer. Wegen ohnehin dürftiger Berichterstattung und
weil die Streichung der staatlichen Finanzierung im Jahre 1965 die Möglichkeit zur Datensammlung
ausserhalb den USA und speziell in nicht englischsprachigen Ländern stark reduzierte,
enthält auch das SAF bis 1990 kaum Daten zu Haiunfällen.
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Kein Drohverhalten, sondern das Richten der Kiefer
nach dem Fressen!
© Shark info
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Viele
Jahrzehnte zuvor, im Jahre 1909, beschrieben die sizilianischen Wissenschafter Drs. M. Condorelli und
G. Perrando den Fang einer 4.5 m langen, weiblichen Weissen Hais vor Capo San Croce, nahe Augusta im
östlichen Sizilien. Darauf veröffentlichten sie eine medizinische Untersuchung der
Überreste von 3 im Magen des Tieres gefundenen Leichen. 1960 untersuchte der bekannte
italienische Fischkundler Georgio Bini den ohne Verletzungen abgelaufenen Angriff eines Weissen Hais
auf den Gerätetaucher Goffredo Lombardo, der vor San Felice Circeo, Terracina, in West-Italien
Fische harpunierte. Im Jahre 1976, auf dem Höhepunkt der durch den Film «Der Weisse
Hai/JAWS» verursachten Hai-Hysterie, beschrieben der Rochen-Spezialist Christian Capapç
und Kollegen die potentielle Gefahr von Haiangriffen vor der tunesischen Küste und berichteten
von einem Angriff auf einen Speerfischer vor Bechateur, nahe Bizerte. Erst kürzlich, 1996,
veröffentlichte ich, als Teil einer grösseren Abhandlung über Auftreten und Biologie
dieser Art im Mittelmeer, einige weitere Kommentare zu Begegnungen zwischen Menschen und Weissen Haien
in der Region.
Um, ausser den beschriebenen, noch weitere, veröffentlichte und wissenschaftlich fundierten
Fakten über Haiangriffe im Raume des Mittelmeers zu finden, müsste auch der fleissigste
Gelehrte auf dem Gebiet des Haiverhaltens zeitlich sehr weit zurück suchen. Die Regenbogenpresse
der Region berichtete jedoch über eine grössere Anzahl von weiteren Begegnungen, wovon
einige von Giudici & Fino in ihrem 1989 veröffentlichten Buch «Squali del
Mediterraneo» beschrieben wurden.
Es lohnt sich, kurz auf die steigende Medien-Popularität des Themas «Haie im
Mittelmeer» einzugehen. Der vielleicht nennenswerteste und die weltweite Aufmerksamkeit der
Medien erregende Angriff im Mittelmeer war der rätselhafte Tod des Gerätetauchers Luciano
Costanzo. Der Taucher starb offensichtlich an den Folgen eines unprovozierten Angriffs eines Weissen
Hais am 2. Februar 1989 im Golf von Baratti, nahe Piombino an der Küste der Toskana in Italien.
Dieser einzelne Unfall wurde wiederholt in den Medien abgedruckt und erschien sogar vierfarbig in
normalerweise eher konservativen Zeitschriften wie der «Times» in London, und
«blutige» Schlagzeilen erschienen überall in Europa. Seit das weltweite Medieninteresse
am Weissen Hai generell zugenommen hat, geniesst diese Haiart - und die seltenen Angriffe auf
Schwimmer und Boote - auch im Mittelmeer grössere Aufmerksamkeit. Kurz vor dem Verfassen dieses
Artikels, im September 1998, wurde ein sehr grosser Weisser Hai (ca. 5.5 m) von einem Sportangler-Boot
aus, 35 km vor Senigallia, an der italienischen Adriaküste, mit Video gefilmt. Diese Begegnung
wurde verbreitet als «Haiangriff» bezeichnet. In Wirklichkeit versuchte jedoch nur ein
hungriger Weisser Hai einem unachtsamen Angler einen gefangenen und bereits toten Hai unter der Nase
wegzuschnappen!
Paradoxerweise wurde die einzigartige Tatsache dieser Hainachricht - dass sie nämlich vom ersten
überhaupt je lebend im Mittelmeer gefilmten Weissen Hai handelte - von den Journalisten
völlig ignoriert. Für die Tier-Filmemacher war dies aber ein Thema, sie beeilten sich die
Filmrechte zu erwerben. Es lohnt sich über diesen speziellen Fall einige Hintergrundinformationen
zu geben, denn bereits in den vergangenen Jahrzehnten gab es, meist zwischen August und September, in
derselben Region der Adriaküste Italiens Weisshai-Aktivitäten: So suchte im Jahre 1989 ein
grosses Tier - genannt Willie - wiederholt die Gewässer vor Rimini auf; 1986 fand nahe der
Po-Mündung ein Angriff auf ein Sportangler-Boot statt; vor Venedig wurde 1977 eine
wissenschaftliche Plattform auf seltsame Weise gerammt und in Riccione wurde 1986 ein
österreichischer Speerfischer angegriffen und verletzt. Trotz all dieser historischen Fakten
bezeichnen viele Reporter - wohl etwas unbeholfen - den 1998 gefilmten Weissen Hai als «den
ersten in adriatischen Gewässern gesichteten Weissen Hai». Soviel zur Recherche von
Fakten.
Ich frage mich, warum die meisten Diskussionen über Haiangriffe - oder tatsächlich nur
Begegnungen mit Weissen Haien - im Mittelmeer, von solch falschen Informationen begleitet werden?
Vielleicht liegt einer der Hauptgründe darin, dass eine verlässliche Auflistung von
Haiangriffen in der Region in der Literatur nicht existiert und für Journalisten sowie ebenso
für die meisten Haiforscher nicht zugänglich ist. In anderen Regionen mit viel
häufigeren Haiangriffen - wie Kalifornien, Florida, Südafrika oder Australien - finden sich
Institutionen, die gemeldete Begegnungen laufend aktualisieren. Diese Register stehen typischerweise
unter der Schirmherrschaft des ISAF (International Shark Attack File), das aus der SAF-Datenbank der
US Navy hervorging.
Die zuvor erwähnte Situation im Mittelmeer ist jedoch in Änderung begriffen. In den letzten
Jahren entwickelte sich, als Ablage des ISAF, das MEDSAF (Mediterranean Shark Attack File), eine
Gemeinschaftsarbeit verschiedener Haiwissenschafter der Region und insbesondere Italiens. Das MEDSAF
befindet sich beim SHARK TRUST - eine gemeinnützige Tierschutzorganisation in England - und wird
zur Zeit von mir unterhalten. Die stetige Vervollständigung zielt darauf ab, intensivere
Untersuchungen von Haiangriffen auch in der Region voranzutreiben, wie sie in anderen Gebieten der
Welt bereits üblich sind. Die Intensivierung der Führung dieser Datensammlung ist mit den
Zielen des SHARK TRUST gut vereinbar. Schlussendlich profitieren von der Veröffentlichung der das
überraschend geringe Risiko von Haiunfällen im Mittelmeer belegenden Statistiken sowohl die
breite Öffentlichkeit als auch die betroffenen Haie der Region.
An dieser Stelle ist - entgegen anders lautenden Vermutungen, wie zum Beispiel der im Buch «Shark
Attacks» von Alex MacCormick unterschwellig angedeuteten Verschwörungstheorie - deutlich zu
sagen, dass weder das ISAF noch das MEDSAF die Statistiken der Haiangriffe im Mittelmeer vor mit guter
Absicht anfragenden Personen irgendwie verheimlichen. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich klar
sagen, dass es auch keine Indizien dafür gibt, dass Haiangriffe im Mittelmeer von Ländern,
in deren Hoheitsgebiet sie vorkamen, bewusst verschwiegen würden, nur um deren breite
Veröffentlichung zu verhindern. Im Gegenteil, öffentliche Stellen waren eine grosse Hilfe
bei der Führung und Korrektur der gegenwärtigen MEDSAF-Datenbank.
Bis zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels wurden im MEDAF seit 1899 60 Fälle von
Haiangriffen auf Menschen oder Boote (einschliesslich Kanus) im Mittelmeer registriert. Die einzelnen
Fälle können in die im Folgenden beschriebenen Unterkategorien unterteilt werden:
Diese Kategorie liefert die wichtigsten Statistiken für den Vergleich der relativen Gefahr von
Haiunfällen mit Schwimmern/Tauchern in den verschiedenen Regionen der Welt. Obwohl frühere
Datenbanken, wie diejenige von Schultz & Malin von 1963, die tatsächliche Anzahl von
verlässlich bestätigten Ereignissen aus der Mittelmeerregion stark unterschätzt hatten,
ist die totale Anzahl, im Verhältnis zu den Millionen von Menschen, die seit 1899 jedes Jahr im
Mittelmeer schwammen und tauchten, sehr niedrig. Der letzte Unfall mit Körperverletzung geschah
am 3. September 1993 200 m vor Playa de les Arenes, einem Strand von Valencia (Katalonien) an der
spanischen Costa Blanca. Das Opfer, der regelmässig an diesem Strand schwimmende Einwohner Jorge
Hernandez, wurde an der Oberfläche von einem kleinen Hai ihm unbekannter Art angefallen.
Später beschrieb er den Hai als «schlank», «schwarz» und etwa 2 m lang. Die Zehen
am linken Fuss des Opfers wurden beim Unfall verletzt. Zur Erinnerung: Der letzte tödliche Unfall
im Mittelmeerraum ist der viel zitierte Fall des italienischen Tauchers Luciano Costanzo im Februar
1989.
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Genaue Kenntniss des Verhaltens einer Haiart ermöglicht
die Beobachtung aus nächster Nähe (Aufnahme mit 15mm Objektiv aus ca. 1 m
Entfernung).
© Shark info
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Während der
letzten Jahrzehnte nahmen die Angriffe auf Surfer in wärmeren Gewässern weltweit zu und
wurden meist dem Weissen Hai (Carachordon carcharias) zugeschrieben. Viele wissenschaftliche
Kommentatoren begründen die Unfälle mit einer Verwechslung der Haie, die
irrtümlicherweise Surfer auf ihren Brettern mit natürlicher Beute (Seehunde und
Seelöwen) verwechseln sollen. Doch diese Theorie könnte, wenigstens aus globaler Sicht
gesehen, sehr wohl auch nur eine sehr grobe Vereinfachung darstellen. Seehunde sind im Mittelmeer
extrem selten. Es gibt keine Indizien dafür, dass die isolierten an einigen Stellen im Mittelmeer
vorkommenden Mönchsrobben auch von Weissen Haien gejagt werden. Trotzdem zeigt ein erst
kürzlicher Angriff auf einen Surfer im Mittelmeer, dass das Interesse der Weissen Haie an
Surfbrettern und ähnlichen, an der Oberfläche treibenden Objekten, nicht auf Regionen
beschränkt ist, wo Robben ihre hauptsächliche Beute sind. Am 6. Juni 1989, nachmittags um 3
Uhr 30, vor Marinella nahe Marina di Carrara (Toskana) im nordwestlichen Italien, wurde der lokale
Surfer Ezio Bocedi von einem 3 m langen Hai - mit grösster Sicherheit ein Weisser Hai - schwer am
rechten Oberschenkel verletzt. Bocedi lag auf dem Surfbrett und liess, um zu urinieren, den
Unterkörper ins Wasser hängen. Ob das Urinieren den Hai anzog ist unklar. Bocedi selbst
glaubt es nicht, weil er das Tier sich schon vorher nähern und ihn einige Sekunden lang umkreisen
gesehen hatte. Damit deutete er an, dass die Neugierde des Hais durch visuelle Eindrücke bereits
vor dem Urinieren geweckt worden war.
Luft/See-Katastrophen, wie Schiffsuntergänge oder Flugzeugabstürze, galten schon lange als
Inbegriff der Haigefahr schlechthin, dies insbesondere im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs.
492 vor Christus beschrieb Herodot den ersten Fall eines Haiangriffs auf einen schiffbrüchigen
Matrosen während der Zerstörung der persischen Flotte vor Athos, Griechenland. Wie auch
immer, trotz intensiver Schiffs- und Flugaktivitäten im Mittelmeeraum während des Zweiten
Weltkriegs, sind Haiangriffe überraschend selten geblieben. Im August 1943 war der US-Pilot
Leutnant R. Kurtz gezwungen, seine Maschine etwa 65 km südlich von Neapel notzuwassern, als er
sich nach einem Luftangriff auf Neapel auf dem Rückweg befand. Während er auf Rettung
wartete wurde er mehrfach von verschiedenen Haien gebissen und erlitt Verletzungen an beiden
Händen und Armen. Zweifellos blieben weitere ähnliche Fälle vor dem chaotischen
Hintergrund des Krieges unerkannt.
Zur Zeit sind 6 in diese Kategorie gehörende Fälle registriert. Der jüngste fand am 15.
Juni 1983 bei Riomaggiore (Italien) statt, wo der Gerätetaucher Roberto Piaviali von einem 3 m
langen, aggressiven Weissen Hai in 5 m Tiefe belästigt wurde. Piaviali floh zum nahen Tauchboot,
wo der Hai mit hölzernen Stöcken vertrieben wurde.
Diese Kategorie von Angriffen benötigt beim Entscheid, ob man sie auflisten soll oder nicht,
besondere Umsicht. Bei allen Begegnungen zwischen Haien und Tauchern könnten dem Hai auch
fälschlicherweise Aggression oder irgendeine Angriffsabsicht unterstellt werden. Um in diese
Kategorie zu fallen, muss feststehen, dass der Kontakt mit dem Hai oder den Haien unmittelbar
bevorstand und, wie in Piavalis Fall, nur durch kontrollierten Rückzug vermieden werden konnte.
Das am besten beschriebene Beispiel in dieser Kategorie: Ein 4.2 m langer, weiblicher Weisser Hai biss
mehrmals schwer auf den Taucher Goffredo Lombardo ein, als dieser im September 1956 etwa 6 km vor San
Felice Circeo (Italien) am Grund tauchte. Er wurde gerettet, weil er dem Hai mit seiner Harpune in den
Kopf schoss. Glücklicherweise blieb Lombardo, trotz einer Vielzahl von Biss-Schäden an
seinen Flaschen und anderen Ausrüstungsteilen, völlig unverletzt. Ebenso bemerkenswert ist,
dass Lombardo einen Tag später an dieselbe Stelle zurückkehrte, nach dem Hai angelte und
denselben Weissen Hai, der ihn angegriffen hatte, auch tatsächlich erwischte. Wie von Giorgio
Bini in einem ausführlichen Bericht (veröffentlicht 1960) beschrieben und fotografiert
wurde, hatte der Hai noch immer die Wunde vom Harpunenpfeil am Kopf.
An selben Ort, bei San Felice Circeo, fand 1960 ein weiterer, sehr ähnlicher Angriff eines
männlichen Weissen Hais auf zwei Taucher ohne Verletzung statt. Sie begegneten dem Tier, als es,
begleitet von einem grösseren Weibchen, nahe dem Meeresgrund schwamm. Die sehr interessante
Beobachtung lässt aggressives Verhalten im Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten in
Erwägung ziehen. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass im September 1962, erneut am selben
Ort, der speerfischende Gerätetaucher Maurizio Sarra weniger Glück hatte. Er verstarb auf
dem Operationstisch als Folge seiner schweren Beinverletzungen, die ihm ein Weisser Hai beigebracht
hatte. Sarra war mit 3 Freunden getaucht und wurde angegriffen, nachdem er eben einen harpunierten
Barsch ins Boot gebracht hatte und wieder auf dem Weg zum Grund war.
An vielen Orten der Welt, wo Weisse Haie vorkommen, werden Boote von ihnen häufig
«untersucht» und sogar angebissen. Dies ist im Mittelmeer nicht anders. Die Tendenz
erwachsener Weisser Haie mit Fischerbooten, Vergnügungsbooten und kleineren Schiffen wie zum
Beispiel Kanus aggressiv zu interagieren, wurde seit vielen Jahrzehnten beschrieben. 1881
erwähnte der respektierte Fischkundler Döderlein, dass lokale Fischer gewarnt wurden,
nachdem ein Weisser Hai in der Strasse von Messina ein Boot angegriffen hatte. In der MEDSAF-Datenbank
finden sich für den Zeitraum von 1908 - 1935 weitere frühe Berichte ähnlicher
Begegnungen mit Weissen Haien vor Triest (Italien), vor der Halbinsel Istriens (Kroatien), im Bosporus
(Türkei), vor Barcelona (Spanien) und in der Ionischen See vor Catania (Sizilien). In den 80er
Jahren wurde eine kleine Anzahl von unprovozierten Angriffen auf kleine Boote bei der Insel Elba und
vor der Po-Mündung in der Adria registriert. Das erste bekannte Ereignis im Mittelmeer mit einem
Kanu - vergleichbar mit Angriffen auf Kajaks oder ähnliches in anderen Teilen der Welt - geschah
am 30. Juli 1991 um 3 Uhr 30 nachmittags, nur 20 m vor dem bevölkerten Strand der Bucht von
Tigullio bei Santa Margherita, Ligurien (Italien). Die einheimische Ivana Iacaccia befand sich mit
einem 2 m langen, weissen Fiberglas-Kanu in 9 m tiefem Wasser gerade auf dem Rückweg ans Ufer,
als sie von einem Weisser Hai von ca. 3.5 m Länge angegriffen wurde. Die Haiart konnte durch die
Beschädigung am Kanurumpf und durch ein zufällig im Fiberglas stecken gebliebenes
Zahnfragment eindeutig identifiziert werden. Geht man von der gegenwärtig enormen Zunahme der
Popularität solcher Boote und ähnlich grosser Surfboards und Pedalos in den Ferienzentren
des Mittelmeers aus, erstaunt es vielleicht, dass es seit 1991 zu keinem weiteren Zwischenfall
gekommen ist (ein Angriff eines Weissen Hais auf einen Windsurfer mit Körperverletzung geschah im
März 1986, allerdings knapp ausserhalb des Mittelmeers in Tarifa, Spanien, auf der atlantischen
Seite Gibraltars). Die Statistiken belegen klar das extrem kleine Risiko eines Haiangriffs im
Mittelmeer. Dies insbesondere im Vergleich zu anderen Regionen der Welt, wo sporadische Angriffe von
Weissen Haien auf kleine Wasserfahrzeuge praktisch jedes Jahr vorkommen.
Provozierte Haiangriffe sind an gewissen Orten der Welt relativ häufig. Taucher interagieren
bewusst mit verschiedenen Haiarten und Menschen können beim Angeln von Haien mit den erregten und
sich verteidigenden Tieren - entweder im Wasser oder wenn die Haie an Bord gehievt werden - in
direkten Kontakt kommen. Bisher wurden 4 solcher Ereignisse im Mittelmeer gemeldet, wobei 3 davon mit
nicht tödlichen Verletzungen endeten. In 2 dieser Fälle wurden Blauhaie (Prionace glauca)
eindeutig identifiziert, sowie ein Sechskiemenhai (Hexanchus griseus) in einem dritten Fall und eine
Makrelenhai-Art (Familie Lamnidae) - möglicherweise ein Weisser Hai - im vierten Fall. Alle diese
Fälle ereigneten sich in den Küstengewässern Italiens.
Eine letzte (und immer wieder schwierige!) Kategorie des MEDSAF wird unter dem Titel
«Begegnungen, die weitere Bestätigung benötigen» geführt. Diese Kategorie
umfasst derzeit 10 Fälle, wovon 4 «tödlich» endeten. Die Mehrzahl geschah vor
1980. Mit Hilfe von rund ums Mittelmeer arbeitenden Wissenschaftern arbeitet man nun daran, die
Richtigkeit dieser Ereignisse entweder zu widerlegen oder zu bestätigen. Bei der reichen
maritimen Erbschaft der Region und der langen Geschichte lokaler und regionaler
Bevölkerungsgruppen ist die mündliche Überlieferung von Haiangriffen ein zu erwartender
und üblicher Bestandteil späterer Wissenschaft. Sofern diese Ereignisse jedoch nicht mit
glaubwürdigen und nachprüfbaren Aussagen von Augenzeugen, Zeitungsberichten,
Polizeirapporten oder dergleichen belegt werden können, fallen die meisten für statistische
Zwecke ausser Betracht.
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Ian K. Fergusson ist Haibiologe, Chairman des «Shark Trust»
(England) und ein anerkannter Kenner der Haie im Mittelmeer.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Ian K. Fergusson
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