Von Dr. Erich K. Ritter
Haie gehören zu den am besten angepassten Wirbeltieren der Weltmeere und
verfügen über eine Vielzahl hochentwickelter Sinne. Sie sind nicht nur in
der Lage akustische, optische und geruchliche Reize wahrzunehmen, sondern auch
Veränderungen von Wasserdruck und bioelektrischen Feldern. Kein anderes marines
Lebewesen kann in der Anzahl seiner Sinne mit den Haien konkurrenzieren. Sie sind in
dieser Hinsicht einzigartig. Durch ihre ausserordentlichen Fähigkeiten
können Haie das artspezifische «Reizfeld» jedes marinen Organismus
analysieren.
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Auf vielen Fangschiffen gelten Haie als «Ware»
- nicht als Lebewesen - und werden mit fragwürdigen Methoden an Bord gehievt.
© Shark info
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Die Natur lehrt uns, dass Organismen, die sich in der gleichen Umgebung
entwickelten, in der Lage sind, sich gegenseitig zu erkennen und einander richtig
einzuordnen. In der langen Entwicklungsgeschichte passten sich so die Tiere
aneinander an und lernten, ihr Verhalten aufeinander abzustimmen. Diese Entwicklung
dauert jeweils viele Tausende oder gar Millionen von Jahren, bis sie schliesslich
«instinktiv» wird. So reagieren Fische, Seehunde, Delphine und andere
Meeresbewohner ganz spezifisch auf Haie und umgekehrt. Zwischen Organismen, die sich
in den Meeren entwickelten, findet also eine erfolgreiche und sinnvolle Interaktion
statt. Dinge jedoch, die nie Bestandteil der Ozeane waren, können nicht oder
nur beschränkt analysiert werden. Da Menschen keine Meerestiere sind, ist ein
Hai nicht in der Lage zu «erkennen», was ein Mensch ist. Ein Hai kann
seine Sinne nur im Rahmen des Gewohnten einsetzen und versuchen einen Menschen mit
dem Geruchssinn, optisch oder bioelektrisch zu beurteilen. In den meisten
Fällen wird ein Hai auf einen Menschen reagieren. Diese Reaktion erfolgt jedoch
nicht auf den als solchen erkannten Menschen, sie ist lediglich ein Versuch des Hais
mit seinen vorhandenen Sinnen etwas Unbekanntes zu erfassen.
Dabei ist es - auch wenn der untersuchte Organismus eben nicht marinen Ursprungs ist
- möglich, dass ein aufgefangener Reiz wie Aussehen, Geräusch oder
elektrisches Feld einem dem Hai bereits bekannten Organismus ähnelt. So wird
etwa ein Taucher in einem schwarzen Anzug kaum den Geruch eines Seehundes
verbreiten. Vielleicht erinnern dessen Erscheinungsbild und bioelektrisches Feld
aber schon eher an einen Seehund und erzeugen möglicherweise eine
Annäherung des Hais. Der Hai nimmt nun nicht einfach an, dass es sich beim
Taucher tatsächlich um einen Seehund handelt, er erkennt lediglich ein an einen
Seehund erinnerndes Objekt. Da er jedoch das Wahrgenommene nicht abschliessend
analysieren und auch nicht definitiv ausschliessen kann, dass es sich dabei nicht um
etwas Fressbares handelt, wird der Hai möglicherweise zubeissen und die
Essbarkeit mit seinen Geschmacksknospen testen. Das «Schmecken» stellt das
abschliessende Kriterium für das Fressen oder Loslassen potentieller Beute
dar.
Im Zusammenhang mit Unfällen mit Surfern wird meist von einem
«Irrtum» des Hais gesprochen. Man nimmt vereinfachend an, der Hai habe den
Wellenreiter mit einem Seehund verwechselt. Diese Theorie hält sich seit vielen
Jahren hartnäckig, weil sie aus menschlicher Sicht so plausibel scheint und die
gängige Irrmeinung, dass Haie primitive Tiere seien, bequem bestätigt.
Deshalb scheint auch der Irrtum als tatsächliche Unfallursache entsprechend
nahezuliegen. Doch die scheinbar so plausible «Unfallursache» ist,
kritisch betrachtet, nichts weiter als eine gefällige Idee. Haie sind keine
dummen Fressmaschinen! Im Gegenteil sind sie sehr intelligente Kreaturen. Verwendet
man die gängigen Kriterien zur Definition von Intelligenz, wie Lernen,
Erinnern, oder auch das Reagieren in unbekannten Situationen, stehen Haie selbst
höher gestellten Tiergruppen in nichts nach. Zieht man das Verhältnis
zwischen Hirn- und Körpermasse als Kriterium heran, sind die Haie sogar mit
vielen Säugetieren - immerhin die Tiergruppe, der auch wir Menschen
angehören! - vergleichbar.
Die Entwicklung der Haie dauerte rund 400 Millionen Jahre und findet ihren
vorläufigen Höhepunkt in den heute lebenden Haiarten. In dieser langen
Zeit hatten die Haie sich mit vielen anderen Tiergruppen auseinander zu setzen. Es
ist höchst unwahrscheinlich, dass die Haie - als heute so dominierende
Tiergruppe des marinen Lebensraums - ihre Jagdstrategie auf
«Irrtümern» aufbauen konnten. Träfe dies zu, wären sie
längst als blosse «Spielerei der Natur» ausgestorben. Schon zu oft
hat uns unsere anthropozentrische Ansicht eine falsche Idee vorgaukelt. Der Versuch
des Menschen, eine Situation aus seiner Sicht zu erklären, ist natürlich
und verständlich, in der Verhaltensbiologie aber ein gefährlicher Ansatz.
Wir Menschen erfassen unsere Umgebung in erster Linie mit den Augen. Entsprechend
versuchen wir auch einen Haiangriff auf einen Surfer primär mit diesem
Sinnesorgan zu erklären. Haie besitzen jedoch weit mehr Sinne, die sie zur
Analyse einer Begegnung mit einem Surfer einsetzen können. Diese Tatsache ist
bei einer Interpretation eines Haiunfalles zu beachten. Doch gerade gegenüber
Haien wird oft vorschnell geurteilt und die alten Theorien hielten sich über
Jahre hinweg. Haie beissen nicht aus Irrtum zu! Ein Biss erfolgt auch nicht aufgrund
einer Verwechslung zum Beispiel eines Tauchers mit einem Seehund. Ein Hai beisst zu,
weil er etwas für ihn Unbekanntes - mit den Geschmacksknospen im Maul -
beurteilen will.
Die folgende Frage drängt sich nun förmlich auf: Warum werden weltweit nur
so wenige Surfer von Haien gebissen? Surfer sind doch für jeden Weissen Hai
etwas gänzlich Neues. Entsprechend müsste doch jede Begegnung mit einem
Biss enden und die Strände wären mit verbissenen Surfbrettern regelrecht
übersät. Für die Erklärung spielt die Evolution der Haie als
Topräuber der Meere eine wichtige Rolle. Unbekanntes ist immer potentiell
gefährlich und - selbst für Haie - mit einem gewissen Risiko verbunden.
Die Annäherung oder das Zubeissen sind deshalb als Ausnahme und nicht als Regel
zu verstehen!
Würde in einer Umfrage auf der Strasse nach dem besten Stimulanzmittel für
die Auslösung eines Haiangriffs gefragt, käme mit grosser Sicherheit die
Antwort «Blut» an erster Stelle. Diese anscheinend universell akzeptierte
Meinung herrscht bei Laien und Fachleuten gleichermassen vor. Für die meisten
Menschen ist «Blut im Wasser» gleichbedeutend mit «wilder
Fressorgie» der Haie. Wie beim «Hai-Surfer-Phänomen» bestehen
bezüglich Blut ähnlich fehlgeleitete Erklärungsmechanismen. Doch das
vermeintlich Naheliegende ist nicht «der Weisheit letzter Schluss». Blut
ist nicht gleich Blut! Das Blut jeder Tierart besitzt eine eigene, artspezifische
Zusammensetzung aus Plasmaproteinen, anorganischen Ionen und Salzen, organischen
Nährstoffen und stickstoffhaltigen Abfallprodukten, um nur einige zu nennen.
Versuche zeigen, dass Haie äussert sensible Geruchsorgane besitzen und zum
Beispiel nicht auf Zucker sondern auf Proteine reagieren. Schon dies zeigt deutlich,
dass sich mit dem Geruchsorgan des Hais über Millionen von Jahren ein sehr
differenziertes Ortungsorgan entwickelte. Aber mit seinem hochspezialisierten
Geruchssinn kann der Hai nur ihm bereits bekannte Tiere aufgrund ihrer
Blutzusammensetzung identifizieren. Gewisse Blutbestandteile können ihn an
bekannte Organismen erinnern und deshalb durchaus eine Annäherung
auslösen. Der Hai erkennt jedoch genau, dass das gerochene Blut ihm nicht
vollständig bekannt ist, und wird sich entsprechend vorsichtig nähern.
Es ist nun fraglich, ob überhaupt generell von einem durch Blut induzierten
«Fressrausch» gesprochen werden darf. Neuere Untersuchungen zeigen, dass
es sich beim «Fressrausch» wahrscheinlich nicht um ein unorganisiertes
Prügeln um Futter, sondern um ein schnell ablaufendes, hierarchisches Fressen
handelt. Blut kann zwar mithelfen, gewisse Verhaltensweisen zu beschleunigen, es
betäubt aber weder die Sinne der Haie noch bewirkt es zwingend einen
regelrechten «Rauschzustand». Wie schon für den
«Irrtumsbiss» bei Surfern, etablierte sich auch bezüglich der
Wirkungen von Blut auf die Haie eine gängige Ansicht, die von den Medien schon
viel zu lange kritiklos herumgetragen wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Komitee gegründet, das die Aufgabe hatte,
ein Hai-Abwehrmittel zu finden. Um die Angriffsweise der Haie besser verstehen zu
können, wurde damals damit begonnen, alle Daten der Angriffe zu sammeln und zu
analysieren. Dabei stand immer das Ereignis selbst im Vordergrund. Nie wurde auch
die Biologie des Tieres untersucht. Diese kurzsichtige Denkweise hat sich bis heute
erhalten. Noch immer werden Unfälle vorwiegend aus dieser Sicht analysiert und
nur die äusseren, vermeintlich zu Unfällen führenden Faktoren
beschrieben: Blut, Geräusche, Erscheinungsbild, usw. Um die wirklichen
Unfallursachen zu finden oder auch nur besser erklären zu können,
müssen zwingend Biologie und Verhalten der Haie herangezogen werden. Will man
weitere, sinnlose Hai-Massaker aus Angst, Unverstand oder Profitgier vermeiden, muss
alles daran gesetzt werden, die Forschung in Richtung Biologie und Verhalten zu
lenken. Für die breite Masse stellt der Hai noch immer überwiegend ein
dummes, aus Irrtum und Unfähigkeit zubeissendes Monster dar. Viele Menschen
empfänden es sogar als Segen, wenn diese Tiere nicht mehr in den Meeren
schwimmen würden. Entsprechend stehen Haischutz-Kampagnen auf wackeligen
Beinen. Doch Haie sind ein zentraler und unverzichtbarer Baustein im Gleichgewicht
der Meere und müssen mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln erhalten
werden. Ein richtiges Verständnis der tatsächlichen Ursachen der
Haiunfälle trüge massgeblich dazu bei, das unberechtigt schlechte Image
der Haie zu verbessern. Und käme die längst überfällige
Image-Verbesserung letztlich nicht auch uns Menschen zugute?
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* Dr. Erich K. Ritter ist Haibiologe
und Adjunct Assistenz Professor an der Hofstra Universität, New York.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. Erich K. Ritter
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