Von Prof. Dr. Richard Lund
Der Hai verfügt über ein äusserst differenziertes sensorisches System, das bei der
Orientierung, der Nahrungssuche und der Fortpflanzung eine wichtige Rolle spielt.
Dazu gehören nicht nur Geruchssinn, Seh- und Hörvermögen, Geschmacksinn und
Druckwahrnehmung (zur Ermittlung von Wasserbewegungen), sondern auch eine Art sechster Sinn: die
Lorenzinischen Ampullen. Mit diesen Rezeptoren können Haie selbst schwächste elektrische
Felder mit Unterschieden von nur fünf Milliardstel Volt wahrnehmen. Die Lorenzinischen Ampullen
sind winzige, gallertgefüllte Kanälchen, die mit Nerven versehen sind,
die auf elektrische Stimulationen reagieren. Dieses Organ ist über die Schnauzenregion,
den Unterkiefer und um die Augen verteilt und ist an der Hautoberfläche als dunkle
Porenöffnungen zu erkennen.
Dieser sechste Sinn wurde vom Italiener Marcello Malpighi (1628 - 1694) entdeckt.
Beschrieben wurden sie jedoch erst 1678 von seinem Landsmann Stefano Lorenzini, der
aber die Funktionsweise dieser Organe noch nicht durchschaute. Nachdem die Lorenzinischen
Ampullen lange Zeit der Wahrnehmung von Druckschwankungen oder Temperaturveränderungen
zugeordnet wurden, erbrachten die Holländer Dr. A. Dijkraaf und Dr. J. Kalmijn erst
1962 den Nachweis, dass das Organ auf elektrische Reize reagiert.
Im Meerwasser entstehen schwache elektrische Felder auf die unterschiedlichste Weise. Zu den
Hauptemittenten gehören Lebewesen; sie erzeugen bioelektrische Felder, die sie einem
niederfrequenten Summen oder einer Aura gleich umgeben. Die Ströme entstehen innerhalb ihrer
Körper durch Muskelaktivität und elektrochemischen Reaktionen. Aber auch metallische
Gegenstände wie Büchsen, Kabel und Boote bewirken durch galvanische
Reaktionen im Meerwasser schwache elektrische Felder.
|
|
|
Illustration: René Kindlimann / Shark Info 1995
|
Bioelektrische Felder sind äusserst schwach und können
auf küzeste Distanz wahrgenommen werden. Ihren
sensiblen elektrorezeptiven Sinn setzen Haie nicht nur
zur Orientierung ein (siehe unten), sondern auch zum
Aufspüren von Nahrung. So können sie das bioelektrische
Feld eines im Sand vergrabenen Plattfisches wahrnehmen
oder sie benutzen dieses Organ, um vorbeischwimmende Beute aus der Lauerstellung heraus
zu orten. Das zeigt etwa das Beispiel des Schwellhais (Cephaloscyllium), der zum
Jagen bewegungslos und gut getarnt am Boden liegt. Bei ihm wurde nachgewiesen, wie
er auf das bioelektrische Feld reagiert: Wenn die Beute in den Wahrnehmungsbereich der
elektrischen Aura kommt, beisst der Hai zu. Beobachtungen am Hammerhai lassen den
Schluss zu, dass er die Lorenzinischen Ampullen besonders effizient einsetzt.
Auffallend ist sein ruckartiges, repetives Schwenken des abgeflachten Kopfes vor der Beuteerfassung.
Da sein breiter Schädel auch eine grössere Anzahl Lorenzinischer Ampullen zulässt,
ist das Tier offensichtlich in der Lage, die elektromagnetischen Felder seiner Beute genauer
zu detektieren.
Die elektrischen Felder von im Wasser liegenden oder treibenden metallischen Gegenständen
können bei Haien zu einem Fehlverhalten führen. Dass zum Beispiel in den Mägen mancher
Haiarten Konservenbüchsen, Nummernschilder und andere metallische Objekte gefunden werden,
ist darauf zurückzuführen, dass die Signale der Lorenzinischen Ampullen
fehlinterpretiert worden sind.
Zu Beginn der Achtziger Jahre stellten die Holländer Dijkraaf und Kalmijn die Hypothese
auf, dass Haie mit den Lorenzinischen Ampullen das erdmagnetische Feld als Orientierungshilfe
benutzen. Diese Annahme ist bis heute noch nicht bewiesen; doch weisen gewisse Indizien darauf
hin, dass sie stimmt. So würde sie eine Erklärung dafür liefern,
weshalb gewisse Arten, wie etwa der Weisse Hai, auch nach längerer Abwesenheit und
über grosse Distanzen einen Ort wieder finden.
Wissenschaftliche Arbeiten haben gezeigt, dass Rochen mit den Lorenzinischen Ampullen
der rechten und linken Schädelseite kleinste Spannungsunterschiede wahrnehmen, diese
im Zentralnervensystem verarbeiten und zur Orientierung verwenden können - eine
Notwendigkeit zur Orientierung im erdmagnetischen Feld.
*Prof. Dr. Richard Lund, Garden City, N.Y.
Verwendete Literatur:
Dijkraaf, S. u. A. J. Kalmijn (1963): Untersuchungen über die
Funktion der Lorenzinischen Ampullen an Haifischen. Z. vergl. Physiol. 47, 438 -
456.
Dijkraaf, S. u. A. J. Kalmijn (1966): Versuche zur biologischen Bedeutung der
Lorenzinischen Ampullen bei Elasmobranchiern. Z. vergl. Physiol. 53, 187-194.
Kalmijn, A.J. (1982): Electric and magnetic field detection in elasmobranch fishes. Science 218,
916 - 918. Tricas, T.C. (1982): Bioelectric-mediated predation by swell shark,
Cephaloscyllium ventricosum. Copeia 1982: 948 - 952.
Kalmijn, A.J. (1984): Theory of electromagnetic orientation: a further analyses.
In: Bolis, L., Keynes, R.D. (eds.): Comparative
physiology of sensory systems. Cambridge University Press, 525 - 560.
Kalmijn, A.J. u. K.J. Rose (1978): The shark's sixth sense. Natural History 87,
76 - 81. Montgomery
J.C. (1984): Frequence response characteristics of primary and secondary neurons
in the electrosensory system of the thornback ray. Comp. Biochem. Physiol. 79 A:
189 - 195.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Prof. Dr. Richard Lund
|